Interview mit Hand Ulrich Gränicher
Fachspezialisten sind gefragter denn je
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Seit mehr als 100 Jahren werden in der Schweiz Kanalisationen gebaut und betrieben. Mittlerweile sind praktisch alle Liegenschaften an ein
Entwässerungsnetz angeschlossen und das verschmutzte Abwasser wird in den Kläranlagen gereinigt.
Die Abwasseranlagen müssen jedoch instand gehalten werden.
Hierzu sind Fachleute gefragt, welche die Siedlungsentwässerung vorausschauend und sorgfältig planen.
Doch es gibt noch weitere Herausforderungen, wie beispielsweise Starkniederschläge, Überschwemmungen und Rückstaus, denen mit neuen Konzepten und
Lösungsansätzen begegnet wird.
Sauberes einwandfreies Trinkwasser ist unsere wichtigste Lebensgrundlage.
Damit es auch in der Zukunft in genügender Menge verfügbar bleibt, darf dieses Lebensmittel nicht verschmutzt werden.
Obwohl die Schweizer Gewässer heute optisch sauber wirken, gibt es unerwünschte, zum Teil hochwirksame Stoffe von Medikamenten,
Pflanzenschutzmitteln, sowie Chemikalien aus Haushalt, Körperpflege und Industrie,
welche über das Abwasser in unsere Gewässer gelangen und damit längerfristig unsere Gesundheit gefährden.
Dieser Umstand steigert die Anforderungen an den Gewässerschutz und somit auch
an gut ausgebildeten Fachleuten.
Die Berner Fachhochschule (BFH) hat dies erkannt und in Zusammenarbeit mit dem Verband der
Abwasser- und Gewässerschutzfachleute (VSA) ein entsprechendes Weiterbildungsangebot ins Leben gerufen.
Hans Ulrich Gränicher, Studienleiter des CAS und Inhaber des Planungsbüro IPG - Ingenieur- und Planungsbüro Gränicher AG
gibt im Interview Auskunft über den Zustand der Abwasseranlagen
in der Schweiz und wie er die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Weiterbildung auf die herausfordernden Aufgaben vorbereitet.
1. Wie beeinflusst die Siedlungsentwässerung und der damit einhergehende Gewässerschutz die Gesundheit der Bevölkerung?
Sauberes Trinkwasser ist unser wichtigstes Lebensmittel. Ohne genügend frisches und qualitativ einwandfreies Wasser ist unser Überleben und die Gesundheit gefährdet. Dies haben schon die Menschen der frühen Hochkulturen am Indus, Nil, Euphrat und Tigris erkannt und ihre Städte dort gebaut, wo genügend Trinkwasser verfügbar war. Sie haben auch erkannt, dass ein leistungsfähiges Abwasserentsorgungssystem benötigt wird, um die Gesundheit der Bevölkerung nicht zu gefährden und dass sich Krankheitserreger über das Wasser rasch verbreiten.
Damit es auch in der Zukunft in genügender Menge verfügbar bleibt, darf dieses Lebensmittel nicht verschmutzt werden. Mit dem Untergang des römischen Imperiums ging das Wissen über die Zusammenhänge zwischen Trinkwasser- und Abwasserentsorgung verloren. Fäkalien wurden vor Ort entsorgt. Dies führte zu unhaltbaren hygienischen Verhältnissen und zu Cholera- und Typhusepidemien. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts reifte die Erkenntnis, dass die Seuchen in den Städten nur durch den Bau von Kanalisationen wirksam bekämpft werden konnten.
2. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigen Themen im Bereich Siedlungsentwässerung?
Nachdem in den letzten 60 bis 80 Jahren vor allem in den städtischen Gebieten umfangreiche Kanalisationssysteme gebaut wurden, stellen wir heute fest, dass diese bauliche Substanz dringend erneuert und instand gestellt werden muss. Bevor diese Leitungen ersetzt werden, muss geprüft werden, ob das Entwässerungskonzept noch den heutigen Anforderungen entspricht. Zu prüfen sind nebst den baulichen auch hydraulische und umweltrelevante Aspekte. Dazu gehören Fragen wie:
- Soll das Entwässerungssystem weiterhin als Mischsystem betrieben werden?
- Ist eine Umstellung auf ein Trennsystem mit separatem Ableiten des Regenwassers eine gute Alternative?
- Kann das unverschmutzte Regenwasser mit oder ohne Vorbehandlung zur Versickerung gebracht werden?
- Wie soll das Strassenabwasser künftig entsorgt werden?
Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Thema, ist das Hochwasser respektive die Zunahme der Niederschläge, welche einen Einfluss auf das Entwässerungskonzept sowie den Umgang mit der Regenabwasserentsorgung und –behandlung haben.
3. Sprechen wir zuerst über den Werterhalt von Abwasser-Infrastrukturen, welcher insbesondere in den städtischen Region aktueller denn je ist. Auf was müssen wir uns vorbereiten, was kommt in nächster Zukunft auf uns zu?
Das öffentliche und private Abwassernetz weist mittlerweile eine Länge von mehr als 130‘000 km auf. Dies entspricht einem Wiederbeschaffungswert von über 100 Milliarden Franken. Eine unvorstellbar grosse Summe. Unter der Annahme, dass die Leitungen während 50 bis 100 Jahren genutzt werden können, ergibt sich ein jährlicher Erneuerungsbedarf von 1 bis 2 Milliarden Franken. Aufgrund der Altersstruktur dieser Anlagen werden die Aufwendungen für den Werterhalt in naher Zukunft stark zunehmen.
Um die beschränkten finanziellen Mittel möglichst zielgerichtet einsetzen zu können, ist eine gesamtheitliche Betrachtung unumgänglich. Sollte unverschmutztes Regenabwasser aus dem Mischabwassernetz eliminiert und dezentral über Retentions- und Versickerungsanlagen entsorgt werden können, so wird künftig, weil weniger Abwasser im bestehenden Kanal anfällt, anstelle eines neuen grösseren Abwasserkanals auch ein kostengünstigeres Schlauchrelining möglich.
Als Grundlage für den Betrieb und Unterhalt der Kanalisationen ist eine Instandhaltungsstrategie erforderlich. Es gibt drei Möglichkeiten:
- Schadenorientierte Instandhaltungsstrategie: zu warten bis die Anlage nicht mehr funktioniert
- Präventivstrategie: intervallweise erneuern und ersetzen einzelner Anlagen
- Zustandsorientierte Instandhaltung: periodisches inspizieren der Anlagen
Für kommunale Abwasserentsorgungen hat sich die zustandsorientierte Instandhaltungsstrategie längst durchgesetzt. Entsprechend den Vorgaben der VSA Richtlinien (Erhaltung von Kanalisationen, Ausgabe 2009) werden die öffentlichen Abwasseranlagen in der Regel alle 10 Jahre mittels TV-Befahrung auf ihren Zustand kontrolliert und erforderliche Massnahmen geplant. Die Ergebnisse der Zustandsanalyse fliessen in den Investitionsplan ein und ermöglichen so auch die Planung des längerfristigen Finanzbedarfs.
Bei all dem muss aber auch die Qualität der Arbeitsausführung beachtet werden. Hier ist Fachwissen gefordert. Welches System oder Verfahren sich wo eignet, muss der Fachingenieur anhand der ermittelten Randbedingungen festlegen. Die oben genannten Fragestellungen werden als wichtiger Bestandteil im CAS Siedlungsentwässerung thematisiert. Anhand einer Projektstudie bearbeiten und bewerten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die verschiedenen Varianten intensiv.
4. Fast ein Drittel, nämlich ca. 40‘000 km des Abwassernetzes gehört privaten Liegenschaftsbesitzern. Wie sieht es speziell in diesem Bereich mit der Instandhaltung der Anlagen aus?
Im Bereich der Liegenschaftsentwässerung gilt heute für viele Eigentümerinnen und Eigentümer bei der Abwasserentsorgung die Maxime: „ Aus den Augen aus dem Sinn“. Man wartet, bis die Abwasseranlagen nicht mehr funktionieren. Dass bei dieser Strategie auch Abwasser in den Boden infiltrieren kann, wird einfach übersehen.
Private lassen ihre Entwässerungsanlagen meist nur dann untersuchen, wenn ein Schadensereignis dies erfordert. Deshalb müssen hier die Abwasserbetriebe und Gemeinden aktiv werden und die Zustandserhebungen der Liegenschaftsentwässerung organisieren. Hier hat sich das Anreizmodell des Kantons Berns als wirksam erwiesen. Der Kanton Bern unterstützt die Gemeinde mit finanziellen Beiträgen.
5. Die Abwasser- und Kanalisationsinfrastrukturen werden insgesamt von ca. 3‘000 Gemeinden, Verbänden und Organisationen betreut. Weshalb plädieren sie für eine Zentralisierung dieser Anlagen?
Aus der Sicht der Abwasserreinigung und der Generellen Entwässerungsplanung lassen sich die Aufgaben der Siedlungsentwässerung und Abwasserreinigung effizienter und kostengünstiger umsetzen und die Vorgaben der Generellen Entwässerungsplanung einheitlicher lösen. Ich gehe aber davon aus, dass die Gemeindeautonomie bezüglich der Siedlungs- und Liegenschaftsentwässerung einen hohen Stellenwert behalten wird. Deshalb hat der VSA im 2016 eine Praxishilfe für Gemeinden erarbeitet.
6. Kommen wir zu einem weiteren schwerwiegenden Thema im Bereich Siedlungsentwässerung: Hochwasserschutz ist aufgrund der vermehrten Niederschläge je länger, je wichtiger. Was können Gemeinden und Regionen tun um sich zu schützen?
Durch die zunehmende Versiegelung der Oberflächen fliesst heute das anfallende Regenwasser schneller ab und führt zu höheren Abflussspitzen. Zudem wurden in früheren Jahren Bäche begradigt, was ebenfalls zu rascherem Abfluss beitrug. In letzter Zeit ist zudem der Eindruck entstanden, dass gegenüber früher heute intensivere Gewitterregen auftreten.
Um dagegen antreten zu können sind einerseits Massnahmen an der Quelle erforderlich. Dazu gehören das Entsiegeln von befestigten Flächen, die Realisation von dezentralen Rückhaltemassnahmen und die Förderung der Regenabwasserversickerung. Derartige Projekte können Private auf ihren Grundstücken zum Teil ohne grossen Aufwand realisieren. Wer an exponierter Stelle wohnt, muss möglicherweise als Objektschutz örtliche bauliche Anpassungen, wie Schwellen realisieren.
Für Siedlungsgebiete in Gewässernähe sind Hochwasserschutzmassnahmen mit Ausweiten des Gewässerraums zu realisieren.
7. Was sind die besonderen Knackpunkte / Herausforderungen bei diesen Projekten?
Siedlungsentwässerung, Hochwasser-, und Gewässerschutz sind anspruchsvolle Projekte, welche eine gesamtheitliche Betrachtungsweise erfordern. Die Ergebnisse müssen in Sach-, Richt- und Nutzungspläne implementiert werden.
8. Gibt es überhaupt genügend Fachpersonen, um solche anspruchsvolle Projekte zu planen und zu realisieren?
Ich denke das ist eine der wichtigen Aufgaben der Hochschulen. Sie haben dafür zu sorgen, dass genügend junge Ingenieurinnen und Ingenieure zu qualifizierten Fachleuten ausgebildet werden. Mit dem CAS Siedlungsentwässerung will die BFH einen Beitrag leisten, um dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen.
Herr Gränicher, besten Dank für das Gespräch.